Manche Hunde fühlen sich in einer bestimmten Situation deutlich unwohl. Sie könnten gehen, sie könnten flüchten, aber sie tun es nicht. Sie lösen den Konflikt auch auf andere Weise nicht, obwohl sie – von außen betrachtet – dazu die Möglichkeit hätten. Sie ergeben sich ihrem Schicksal.
Dieses Phänomen wird als Erlernte Hilflosigkeit bezeichnet. Es tritt bei Menschen und Tieren auf, und wurde 1967 vom amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman und untersucht. Er führte hauptsächlich Versuche mit Hunden durch, die wie folgt abliefen:
Phase 1: Während dieser Phase wurde
a) eine Gruppe von Hunden kurzen elektrischen Schocks ausgesetzt, welche sie durch eine bestimmte Reaktion, etwa die Betätigung eines kleinen Hebels oder das Drehen eines Rades, verhindern konnten. Mit der Zeit lernten die Hunde, sofort nach Einsatz des Schocks die terminierende Reaktion zu zeigen – sie demonstrierten also Fluchtverhalten.
b) eine zweite Gruppe von Hunden befand sich in einer noch weniger glücklichen Lage: Sie wurden ebenfalls den Schocks ausgesetzt. Jedoch konnte diese Gruppe nichts gegen die aversiven Reize unternehmen – ihr Verhalten hatte keinerlei Einfluss auf die Schocks.
c) eine dritte Gruppe von Hunden wurde als Kontrollgruppe eingesetzt. Während der ersten Phase befand sie sich in einem ähnlichen Apparat wie die beiden anderen Gruppen, erfuhr jedoch keinerlei Schocks.
Phase 2: Während dieser Phase wurden alle drei Gruppen in eine Wechsel-Box gesetzt. Eine Wechsel-Box besteht aus zwei identischen Boxen, die über einen Durchgang miteinander verbunden sind. Das Versuchstier wurde in eine der beiden Boxen gesetzt und einem Schock ausgesetzt. Es konnte diesem Schock nun einfach entgehen, indem es in die andere Box wechselte.
Ergebnis: Die erste Gruppe, welche in Phase 1 den Schock durch Flüchten beenden konnte, lernte sehr schnell, dem Schock durch das Wechseln der Box zu entgehen.
Auch die Kontrollgruppe, welche die erste Phase ohne Schocks erfuhr, flüchtete in die andere Box, und unterschied sich nur in der langsameren Lerngeschwindigkeit von der ersten Gruppe.
Die zweite Gruppe jedoch, welche in Phase 1 Schocks unabhängig von ihrem Verhalten erfahren hatte, zeigte kein Flucht- oder Vermeidungsverhalten. Die Hunde blieben apathisch in einer Box liegen und ließen die Schocks über sich ergehen.
Erlernte Hilflosigkeit zeigt sich in kleineren oder größeren Ausmaßen bei
- Zwingerhunden
- Kettenhunden
- Tierheimhunden
- Puppy mill-Hündinnen
- „Traditionell erzogenen“ Hunden
- Laborhunden
- „Armpüppchen“-Hunden
Hunde mit solcher Vergangenheit bedürfen je nach Erlebnisschwere besonderer Aufmerksamkeit. Sie zeigen unter anderem schneller oder öfter als andere Hunde folgendes Verhalten:
- Schalten ab
- Sind unaufmerksam
- Sind nicht ansprechbar
- Überlassen sich stark ihren genetisch fixierten Verhaltensweisen
- Zeigen keine Eigeninitiative
- Haben geringe Frustrationstoleranz
- Können kaum kreative Handlungen zeigen
- Bieten wenig Verhaltensweisen an
- Sind unselbstständig
- Können schlecht Konflikte lösen
- Haben geringe Stress-Toleranz
- Kippen in „aggressives“ Verhalten
- Sind teilnahmslos, depressiv
Das heißt nicht, dass jeder Tierheimhund obige Merkmale zeigen muss. Auch „bestens aufgewachsene Zuchthunde“ können durch schlechte Erziehungsmaßnahmen unter Erlernter Hilflosigkeit leiden.
Wege aus der Erlernten Hilflosigkeit
Hunde brauchen Wahlmöglicheiten. Sie brauchen das Gefühl, zumindest etwas Kontrolle über ihr Leben zu haben. Nur wenig ist schlimmer als das Gefühl der totalen Ohnmacht.
Tipp 1: Den Hund zuerst kleine, und später immer größere Entscheidungen treffen lassen. Wie sieht das im Alltag aus? Beispielsweise einmal pro Woche einen Spaziergang machen, der ausschließlich vom Hund bestimmt wird. Es geht dahin, wo der Hund hin möchte. Ab der Haustüre. Der Hund entscheidet auch, wie lange der Spaziergang dauert. Die Ergebnisse sind überraschend!
Kontakt mit anderen Hunden ist sehr hilfreich. Im Sozialverhalten entstehen immer wieder Konflikte. Konflikte sind normal in einer Gruppe von Individuen. Kann der Hund diese – kleineren oder größeren – Konflikte friedlich und damit erfolgreich lösen, geht er aus dieser Begegnung gestärkt heraus.
Tipp 2: Zeit mit anderen – freundlichen! – Hunden verbringen. Nicht nur eine kleine Begegnung von 30 Sekunden, sondern mehrere Minuten; für Hunde, die damit umgehen können: 15 Minuten oder länger. Nicht eingreifen bei kleinen lösbaren Diskussionen, sondern dem Hund die Möglichkeit geben, sein Sozialverhalten zu entwickeln. Achtung: Hier kommt es wirklich auf die Auswahl der anderen Hunde an! Von Natur aus sind Hunde Meister darin, Probleme und Situationen zu erkennen. Ein Hund, der unter Erlernter Hilflosigkeit leidet, kann am Vorbild anderer Hunde wieder zurück zu einem natürlichen Verhalten finden. Und erwachsene, gut erzogene Hunde respektieren die Bedürfnisse anderer. Sie werden dem hilflosen Hund jene Distanz und Nähe geben, die er sich wünscht.
Menschen werfen mit Kommandos um sich. Sie glauben, dass ein gehorsamer Hund ein kontrollierbarer Hund ist. Hilflose Hunde sind manchmal sehr gehorsam in Sachen Komm, Platz, Bleib. Sie haben gelernt, sich zu fügen. Ihnen wird immer gesagt, was sie tun sollen. Im Alltag haben sie jedoch Probleme. Der gesunde Hundeverstand wurde ihnen abtrainiert. Ohne einen Menschen sind sie schnell überfordert und verunsichert.
Tipp 3: So viel als möglich auf Kommandos verzichten. Eine gute Übung ist es, sich selbst zu kontrollieren, und zu zählen, wie oft man welches Kommando gibt – einen ganzen Tag lang.
Hilflose Hunde sind gestresste Hunde. Der Stressor der Erlernten Hilflosigkeit kann nicht sofort herausgenommen werden. Bei anderen Stressoren ist dies einfach möglich: Stressor Ballspielen = nie mehr Ballspielen. Stressor falsche Ernährung = Ernährung umstellen. Darum ist es wichtig, bei hilflosen Hunden den Stresspegel gemeinhin gering zu halten.
Tipp 4: Was stresst den Hund? Dies herauszufinden, ist der richtige Weg. Immer. Dann gilt es, die Stressoren nach und nach auszuschalten, so dass der Hund ein entspanntes Leben führen kann. Gestresste Hunde lernen schlecht. Wird der Stresspegel gesenkt, gewinnt der Hund allgemein an Lebensqualität, und kann neue Verhaltensweisen lernen.
Jeder Hund braucht Erfolg. Man stelle sich vor, man würde jeden Tag zur Arbeit gehen, könne es dort aber nie recht machen. Jedes Werk ist ungenügend, jede Idee ist schlecht. Beim Menschen entstehen so Depressionen. Beim Hund auch.
Tipp 5: Erfolge zu schaffen ist einfach. Nasenarbeit, Gerätearbeit ohne Eile und intelligente Spiele sind nur einige von vielen Beschäftigungen, die Spaß machen und dem Hund das Gefühl geben, doch ziemlich brillant zu sein.
Am meisten brauchen hilflose Hunde jedoch Liebe. Nicht jene Liebe, die ein Blinderführhund erfährt, weil er so nützlich ist. Nicht jener als Liebe getarnter Egoismus, den unzählige Chihuahuas ertragen müssen, die als Accessoires auf dem Arm getragen werden.
Gemeint ist jene Liebe, die sich durch Vertrauen und Respekt auszeichnet. Vertrauen in die verborgenen Fähigkeiten des Hundes. Respekt vor den Bedürfnissen und Eigenheiten. Hunde sollten für das geliebt werden, was sie sind: fühlende, denkende Wesen.
Copyright: Sonja Hoegen, www.dogcom.de