Das ist mein fünftes Requiem in drei Jahren. In drei Jahren sind meine fünf Hunde in meinen Armen gestorben. Das macht etwas mit einem.
Daher kann ich kein „normales“ Requiem für Gabriel schreiben, sondern nur eine Geschichte über Gabriel und mich, und über die Hoffnung.
Gabriel und ich
Im Sommer 2021 wurde mir klar, dass ich etwas Neues brauchte.
Gerade zurück von 1000km auf dem Jakobsweg (den ich lief, um den Verlust von Kaylin, Fitzwilliam und Alanna in nur sechs Wochen und ein Jahr später Teresa zu verarbeiten), zog Ira bei mir ein, eine English Setter-Hündin, die ich als Pflegehündin aus Bilbao quasi mitgebracht hatte. Quer durch Spanien hatten sich viele Gedanken angeboten, unter anderem die Erkenntnis, dass ich mich erst mal nicht mehr binden konnte. Aber ein Leben ohne Hund: undenkbar. Also: Pflegehunde für den Tierschutz.
Ich hatte mal gesagt, es würde immer ein English Setter an meiner Seite sein, nun ja, so kann man sich irren. Natürlich kümmerte ich mich gut um Ira, aber wenn sie sich nachts an mich kuschelte, war mir schwer vor Kummer.
Nachdem Ira das 1×1 eines Haushundes gelernt hatte, schrieb ich sie zur Vermittlung aus, ein reizendes Paar aus der Schweiz kam und nahm sie mit. Was für ein Glück, dass nun August war, und damit die ganzen Pensionshunde einzogen in ein Haus, das mal voller glücklicher Hunde war, und das sonst leer gewesen wäre.
Also kein English Setter mehr. Keine Versuche mehr, Vergangenes zurück zu holen. Ich googelte mich durch diverse Vermittlungsseiten, besuchte Tierheime, aber es war einfach noch nicht so weit. Weil es mir so graute vor einem leeren Haus, und weil das Laufen mir so gut getan hatte, flüchtete ich im September nach Nepal, überquerte den höchsten Pass der Welt mit 5416m, baute ein Steinmännchen am Tilicho, dem höchsten See der Welt, und merkte nach einem lebensgefährlichen Sturz, wie sehr ich doch am Leben hänge.
Dort oben im Himalaya (wo der Handy-Empfang übrigens besser ist als in Bad Wimpfen) erreichte mich die Nachricht einer befreundeten Tierschützerin. Der Corgi aus Taiwan, für welchen sie mich als Pflegemama angefragt hatte, könne im Oktober kommen.
An dieser Corgi-Sache ist eine sehr gute Freundin schuld. Sie schenkte mir in diesem besonderen Sommer eine Taschentuchbox vom Edeka mit Corgi-Motiv (wir sind beide große Fans der Queen), und die hatte ich künftig ständig vor Augen. Einen Corgi hatte ich noch nie live gesehen, und das will wirklich etwas heißen. Das wäre also etwas ganz Neues gewesen. Nun kommen für mich ausschließlich Hunde aus dem Tierschutz in Frage, ich rette Hunde, ich kaufe sie nicht.
Aber ein Corgi im Tierschutz? Google fand nur welche in den USA. So, und jetzt wird es etwas irre.
Ich verabschiedete mich also vom Corgi-Gedanken, und da schrieb mir eben besagte Tierschützerin, sie hätte da einen Gorky-Rüden in Taiwan, für welchen sie hier eine Pflegestelle suche. Ob ich Platz hätte? Hm, Gorky, das hörte sich nach einer neuen Mischung mit vielleicht Yorkie an? Eher nicht.
Ein paar Tage später sprachen wir wegen einer anderen Sache am Telefon. Sie: „Und hast du über den Gorky nachgedacht?“ Nun hörte sich das aber an wie … Corgi! Ich: „Hast du Corgi gesagt?“ Sie: „Ja, diese kleinen Hunde, ich weiß nicht, wie man das schreibt.“ Ich: „Du meinst diese kleinen Hütehunde aus England?“ Sie: „Ja.“ Ich: Ja!“
Ich schwöre, sie wusste nichts von meinem Interesse. Ja, nicht einmal ich wusste wirklich etwas davon. Mir ist es eigentlich egal, ob ein Hund einer Rasse zugehört, und wenn es denn eine Rasse gab, die mich dahin schmelzen ließ, dann waren es eben English Setter.
Aber an diesen Moment erinnere ich mich ganz genau, wie ich da im Garten stand, und mich riesig freute auf einen Hund, den ich gar nicht kannte, über den es so wenig Infos gab.
Und ebenso klar ist der Moment, als ich inmitten der nepalesischen Berge las, dass der Corgi im Oktober fliegen könne. Ich freute mich nun auf meine Rückkehr, und auf ihn. Die nächste Nachricht: Der Corgi habe sich im Tierheim mit einem anderen Corgi angefreundet, sie könnten zusammen fliegen, ob ich beide nehmen würde? Vielleicht lag es an der dünnen Luft, oder an der Gewissheit, dass es wenige Pflegestellen gibt, die zwei Hunde auf einmal aufnehmen: ich sagte zu.
Tage später die Nachricht: einer der Jungs sei krank, er hätte ein verkrüppeltes Vorderbein. Ob ich ihn trotzdem nehmen würde. Mir sank das Herz. Behinderte Hunde sind sehr schwer zu vermitteln, und ich hatte ja erst sehr lange sehr kranke Hunde gepflegt. Ich wusste nicht, ob ich das schon wieder konnte.
Aber wie hätte ich jetzt absagen können?
Nun, nachdem der Flug fest stand, machten die Tierschützer in Taiwan Videos, schickten sie mir, und ich fühlte genau nichts. Und darunter: Angst.
Montags flog ich nach Hause, und dienstags, den 12. Oktober 2021, holte ich mit Martina, damals einer meiner Studentinnen, die beiden Jungs ab.
Eher pflichtbewusst packte ich sie ins Auto, und dann, auf der Heimfahrt, da, als Coco und Gigi sich aneinander kuschelten, da schmolz der Eispanzer.
Sie waren unfassbar goldig. Natürlich nicht stubenrein, natürlich nicht an das Leben im Haus gewöhnt, natürlich völlig planlos. Und dennoch war es so einfach wie Atmen, die beiden aufzunehmen. Zuerst in mein Leben, und dann in mein Herz.
Coco hatte in Taiwan bei einem älteren Herrn gelebt, der verstarb, und so kam er in den Tierschutz. In Taiwan gibt es kaum Adoptionen. Für die Tiere heißt es: sterben oder fliegen.
Und jetzt kommt Gigis Geschichte:
Gigi war ein Zuchtrüde. Er wurde 24 Stunden sieben Tage der Woche in einem Käfig gehalten. Jahrelang. Der Käfig war gestapelt mit anderen Käfigen mit anderen Rassehunden. Dieser Stapel im Hinterhof wurde mit einer Plane abgedeckt. Es gibt Fotos davon.
Eine solche Haltung ist selbst in Taiwan verboten, der Züchter wurde hochgenommen. Die Hunde kamen in den Tierschutz, und die ausländischen Partnervereine wurde angefragt. Er hätte nach nur sechs Wochen ausfliegen können. Aber dann brach Corona aus, niemand flog mehr, und so wartete Gigi mit hunderten anderer Hunde in dem übervollen Tierheim, anderthalb kostbare Jahr lang. Als ich gerade im Himalaya rumturnte, bildete sich ein Geschwulst an Gigis Schulter. Er wurde an der Tierärztlichen Hochschule in Taipei untersucht, operiert, und die Probenentnahme war unspezifisch. Das heißt, es wurden keine Krebszellen gefunden, und man vermutete ein Trauma, beispielsweise durch eine Impfung. So steht es im Bericht. Ich bin sehr froh über diesen Fehler, denn hätte man da schon die Wahrheit gewusst, man hätte ihn niemals fliegen lassen. Jeder Flug ist selten und teuer, und man hätte einfach einen Hund mit besseren Chancen bevorzugt. Aber so hoffte man auf einen chirurgischen Eingriff der wesentlich besser ausgestatteten deutschen Tierärzte.
Als Gigi schließlich in Deutschland landete, war seine Schulter deformiert, und er konnte nur wenige Schritte hoppeln. Er wurde sofort auf Schmerzmittel gesetzt, und mit diesen lebte er sichtlich auf. Gigi hatte stets ein Lächeln im Gesicht! Er war einfach unfassbar glücklich. Ein Engel! Er hoppelte ein paar Meter über die Wiese, streckte seine Nase in die Luft, schloss die Augen und genoß den Wind und die Sonne im Gesicht. Er ließ die Schatten hinter sich fallen.
Gigi begeisterte sich besonders fürs Essen. Er schlang alles mit Hingabe hinunter, es war so eine Freude, ihn zu füttern! An Weihnachten, wie er den Fondue-Topf mit seiner langen Zunge gründlichst ausschleckte, der Käserand auf seiner Nase – es war hinreißend. Wenn ich im Gewächshaus Tomaten erntete, schnappte er sich die reifsten aus dem Korb. Im Garten lag er stundenlang ausgestreckt im Gras und schlief zufrieden.
Außerdem liebte er die Welpenspielgruppen. Ausgerechnet! Er wurde zur Gruppe getragen, und dann lag er dabei, und schaute zu, und manchmal spielte er sogar mit, so gut es eben ging. Er genoß die Aufmerksamkeit meiner wunderbaren Kunden, sie streichelten ihn, und steckten ihm verschwörerisch Leckerchen zu.
Die Wochen vergingen, und drei Dinge passierten: Wir ergatterten einen Termin beim Chef-Orthopäden in einer Spezialklinik. Das Geschwülst wurde größer und größer. Und ich entschied mich, Coco und Gigi zu behalten. Beide, weil ich sie nicht trennen wollte, und weil ich es Gigi nicht zumuten wollte, nochmal umzuziehen. Die Jungs waren bei mir zuhause.
Aus Coco wurde Colin und aus Gigi Gabriel.
Dann der gefürchtete Termin beim Orthopäden und die niederschmetternde Diagnose. Knochenkrebs. Sehr aggressiv. Maximal sechs Monate.
Die linke Schulter wurde komplett von dem Osteosarkom „aufgefressen“. Die Probenentnahme in Taipei war nicht tief genug gewesen, um dies zu sehen. Ein weiteres Karzinom versteckte sich in den Lymphdrüsen, noch eines in der Schilddrüse, und viele kleine Mikrokrebszellen im ganzen Körper.
Gabriel war unheilbar krank.
Wie betäubt fuhr ich nach Hause, fassungslos, dass das schon wieder passierte. Aber nun gab es auch einen Plan. Nämlich möglichst viel nachzuholen, möglichst viel schöne Erlebnisse. Nun gab es fast jeden Tag einen Glückskarton zum Auspacken, ich kaufte einen Hundebuggy, und so war Gabriel plötzlich auch bei den anderen Trainingsstunden dabei, was er toll fand. Wir schufen Erinnerungen. An den Tag, als Gabriel sich unbeaufsichtigt das Körnerfutter der Hühner ins Mäulchen stopfte, und zu seiner Enttäuschung keine Eier legte. Als wir Frühlingsblumen im Pflanzenkölle kauften, er liebte es zu shoppen. Als ich ihn mitnahm zu Hausbesuchen, in die Bank, in die Apotheke, und überall war er willkommen, weil er so sanft und sonnig war, unbegreiflich angesichts seiner Vergangenheit und seiner Erkrankung.
Alle meine Hunde liebten das Meer, den Strand, und ich wollte, dass auch Gabriel auf die unendliche Weite schauen und die salzige Luft riechen konnte. Also fuhren wir nach Frankreich. Inzwischen bekam er stärkste Schmerzmittel.
Vom französischen Atlantik war Gabriel wenig beeindruckt. Vom französischen Essen allerdings umso mehr. Baguette mit Camembert, frischen Fisch, Croissants mit salziger Butter… il a aimé ça!
Ebenfalls als Treffer stellte sich der Hundebuggy heraus: er liebte sein Papamobil, und wir machten wunderschöne Wanderungen zu Burgen, zu Seen, und manchmal schlüpfte Colin zu Gabriel hinein, und dann schauten sie beide frech heraus und ließen sich durch die Gegend schieben. Die beiden waren ein super Gespann, sie spielten miteinander und sie lagen aneinander gekuschelt im Körbchen.
Es war ein sehr großes Glück, dass Gabriel und ich zueinander gefunden haben. Mit der Hundeschule vor der Haustüre traf er viele nette Menschen und Hunde. Alles hier war bereits auf immobile Hunde ausgelegt, und neben die neue Eingangstreppe bauten mir meine Schreiner einfach eine lange Rampe. Mit Schmerzmitteln und Co kannte ich mich aus, und ein erfülltes, zufriedenes Hundeleben zu ermöglichen, das ist meine tägliche Arbeit.
Jeden Tag versuchte ich, etwas besonders Schönes für Gabriel zu machen, und seinen besten Freund Colin hatte er sowieso immer an der Seite. Aber auch für mich war es gut: seltsamerweise haderte ich nicht. Wir machten einfach das Beste daraus, und Gabriels sanftmütiges Wesen, seine ungebrochene Freude, sein vertrauensvoller Blick gaben mir die Kraft dazu. Wenn er sich nachts an mich schmiegte, dann war ich traurig und dankbar zugleich.
Der Tumor wuchs und wuchs, die Haut spannte sich darüber, es bildeten sich kleine Risse, und im an einem Dienstag im Februar platzte sie auf. So begannen seine letzten Tage. Der Tierarzt und ich versuchten, mit Sprayverband und künstlicher Haut die Wunde zu schließen, aber das gelang nur bis Mittwoch, dann war sie zu groß. Abends gingen wir in der Fressnapf, fuhren durch die Reihen, und er durfte sich aussuchen und fressen, was er wollte. Das fand er großartig, und obgleich das eine bizarre Wunde an seiner Schulter klaffte, war er voller Freude. Im Kopf war er klar, wenn er auch schneller ermüdete. An Schmerzmitteln bekam er nun alles, was möglich war.
Am Donnerstag sagte ich alle Termine ab, und bestellte den Tierarzt auf Freitag, den 18. Februar 2022. Wir fuhren in ein großes Pflanzencenter, und er schnupperte an den Blumen, hoppelte durch die Abteilung mit der Tiernahrung, und lag zufrieden in seinem Papamobil.
In meinen Armen schlief Gabriel ein, und ich fragte mich, was er wohl mitnimmt aus dieser Welt. Vielleicht den Geschmack von Kebabfleisch und Fisch frisch aus dem Atlantik. Vielleicht die Begegnung mit vielen Hunden und Menschen, die ihn um seiner selbst willen mochten.
Vielleicht die Erinnerung an Colin und mich, die wir in nur vier Monaten versucht haben ihm zu zeigen, was Glücklich sein, was Spaß und Freiheit, was Familie ist. Was Liebe ist…
Mit seinem dicken Bäuchlein und goldenen Herzen, seinem gelassenen Blick aus dunklen Augen, seiner Begeisterung fürs Essen, seiner ruhigen Präsenz fehlt er hier in Raum und Zeit.