Im September 2008 war ich bei einer Tierschützerin in Gundelsheim, und da sah ich sie. Es war Liebe auf den ersten Blick. Riesengroße Augen in einem spitzigen Gesicht, das mich eindringlich anstarrte. Wenig später zog sie bei uns ein, als Pflegehund, denn ich hatte bereits drei Hunde, Alanna, Robbie und Sophie, und damit einen Hund mehr, als geplant. Sophie war als ebenfalls als Pflegehund gekommen, aber schnell entpuppte sie sich als unvermittelbar, und so wurde sie Teil unserer kleinen Familie. Doch das ist eine andere Geschichte.
Bei Maike, so hieß Kaylin damals, gab es ebenfalls Probleme in der Vermittlung, denn sie war jung und hübsch und gesund, und bereits seit einem Jahr in Deutschland. Trotzdem interessierte sich niemand für sie: sie ließ sich nicht anfassen, nicht an die Leine nehmen, war nicht stubenrein, und bellte bei der geringsten Aufregung hysterisch. Der Tierschutzverein bat mich um Hilfe, und ich sagte gerne zu.
In Taiwan fand man Maike und ihren Bruder als Welpen auf der Straße. Sie wurden von einer Frau aufgenommen, die sie über ein Jahr ausschließlich auf einem Balkon mit 2qm hielt, bis Maike dank der Tierhilfe Heilbronn e.V. ausreisen durfte.
Ich erinnere mich noch genau, wie Maike zu mir gebracht wurde: in einer Box, aus welcher sie sich nicht heraus traute. Die Box schob ich unter den Wohnzimmertisch, und meine Hunde begrüßten sie auf ihre ganz eigene Weise: Alanna so höflich wie eine Empfangsdame, Robbie stieß vor Aufregung fast die Box um, und Sophie gar nicht, denn sie war mit ihren eigenen Themen beschäftigt. Maike blieb verkrochen in der Box, und irgendwann gingen wir schlafen. Am nächsten Morgen lag sie in einem unausgepackten Koffer gegenüber von meinem Bett, und blinzelte mich an, einfach so.
Alles lief dann wie von selbst. Maike fügte sich problemlos in unser Leben ein. Sie ließ sich von mir anfassen, wollte gestreichelt werden, stundenlang, sie ging mit uns spazieren, und schon bald konnte ich sie frei laufen lassen. Die Stubenreinheit war viel besser geworden, und das Bellen … nun ja, Jahre später sagte Turid Rugaas zu mir: „What do you expect? It’s a Spitz!“
Also aktualisierte ich die Vermittlungs-Beschreibung, stellte neue Fotos online, und Interessenten riefen an. Keiner war gut genug.
Eines Morgens wachte ich auf, und Maike lag zwischen Robbies Pfoten eingekuschelt. Da wurde mir etwas klar: es ist ein sehr kostbares Geschenk, wenn ein Hund einfach so passt. Und Maike wollte bei uns bleiben. So übernahm ich Maike vom Tierschutzverein und gab ihr einen neuen Namen: Kaylin. Das ist Mandarin, und steht für Glocke und Glück.
Kaylin trieb mich manchmal in den Wahnsinn mit ihrem Lärm, und gleichzeitig ist es heute ihr Bellen, dass ich mit am meisten vermisse. Sie war schnell und schlau, und zusammen mit Alanna ein fantastisches Team. Wir drei machten unseren allerersten Urlaub in Frankreich nach vielen Jahren des Durcharbeitens, und es war großartig. Im Morgennebel stapften wir durch die Ländereien der Loire-Schlösser, am Strand warf sich Kaylin wieder und wieder in den Sand und wälzte sich genüsslich. Unzählige Fotos erinnern an solche Urlaube und die zweifellos schönste Zeit unseres Lebens. Bei allen Abenteuern war Kaylin dabei, eine verlässliche Gefährtin, außer das eine Mal, als wir in Schottland im Zelt schliefen. Morgens machte ich den Reißverschluss auf und blickte direkt in das Gesicht eines Schafes. Vorsichtig öffnete ich etwas weiter: wir waren von einer neugierigen Herde umzingelt! Nicht lange, denn Kaylin hörte das Blöken, sprang verschlafen auf, sah die Schafe und machte einen Satz durch die Öffnung. Erschreckend professionell trieb sie einen Teil der Herde den nächsten Berg hoch, bis sie nur noch ein kleiner gelber Punkt im Grün war. Dann kam sie zurück, außer Atem und sichtlich zufrieden mit sich.
Vor Menschen hatte Kaylin Angst, auch vor manchen Hunden, wenn Alanna nicht bei ihr war. Viele Jahre später kam die sehr freundliche und engagierte Tierschützerin aus Taiwan zu Besuch: Kaylin zitterte in meinen Armen, presste sich an mich, und wir verabschiedeten uns schnell. Ihr ganzes Leben fürchtete sie sich besonders vor Personen mit asiatischem Äußeren. Am glücklichsten war Kaylin, wenn sie mich im Hundetraining begleitete, umgeben von lieben Menschen und ihren tollen Hunden. Oder in Großbritannien, wo Kaylin, wenn sie jemand abwehrend anbellte, gepriesen wurde: „You are such a great watchdog!“
Alle Menschen, die in meinem Leben wichtig waren, hat sie gemocht (außer den Hausmeister, der musste sich wirklich vor ihr in Acht nehmen).
Als ich die still gelegte Gärtnerei in Bad Wimpfen kaufte, eigentlich vor allem für Sophie, erfüllte sich für Kaylin ein Traum. Mit Hingabe verteidigte sie das ganze Gelände, bellte jeden an, der ihr großes Reich betrat, und immer, wenn ich gefragt wurde, ob ich denn keine Angst hier draußen hätte, sagte ich: „Ich habe doch Kaylin.“
Sie liebte es, morgens ins Bett zu springen und mein Gesicht zu putzen, ein Privileg, das sie hütete. Wenn einer der Pflege- oder Gasthunde, die bei uns ein und aus gingen, das ebenfalls versuchte, konnte Kaylin ganz schön sauer werden. Beim Autofahren schaute sie gern über meine Schulter, und manchmal fielen ihr auf langen Fahrten dann die Augen zu, und sie schlief so ein, mit der Schnauze an meinem Arm.
Sie hat die Hundetrainer-Konferenz in Bilbao besucht, und ist mit Alanna und Fitz am Strand in Frankreich um die Wette gerannt. Sie hat tausend Jahre alte Grabmähler in England beschnuppert, und von steilen schottischen Klippen die Wellen krachen hören. Sie war in Bath spazieren, und in Rom und Calais, sie hat Rehe in altehrwürdigen Parks aufgescheucht, Kaninchen auf den Äußeren Hebriden gejagt, und ein Nickerchen auf dem Rasen von Balmoral gemacht. In Südtirol sind wir zu Wasserfällen gewandert, und auf dem Steg zu St. Michaels Mount unfreiwillig geschwommen. In Hunderten von Trainings hat sie Kunden-Hunden auf dem Weg in ein soziales Leben geholfen, sie hat Alanna auf der Fährtensuche begleitet, und ganze Trainer-Ausbildungsgruppen mit ihren Kulleraugen ausgeraubt. Die Schlüsselsuche hat sie sich selbst beigebracht, nur durch Zuschauen, sie konnte die großen Nutella-Gläser apportieren, und mit keinem Hund hatte sie Konflikte, weil sie genau wusste, was sie tat. Sie war unglaublich schlau.
Nach ein paar Jahren erkrankte Kaylin an IBD (das ist so ähnlich wie Morbus Crohn), und in kürzester Zeit magerte sie von guten 10kg auf 5,7kg ab. Es war ein Albtraum. Sie konnte nichts bei sich behalten. Mit intensiver Therapie gelang die Wende, aber gesund wurde sie nicht. Später hatte Kaylin auch gern mal ein paar Gramm zuviel, was mir in meiner Vorbildfunktion so manch schiefen Blick bescherte. Egal. Hauptsache, sie würde nie mehr so dünn sein.
Im Frühjahr 2019 erlitt sie einen Vestibularvorfall, und an Weihnachten einen zweiten, von welchem sie sich nicht mehr richtig erholte konnte.
Seit langem hatte sie eine Herzklappen-Insuffizienz, und die Medikamente konnten das Problem nur abschwächen, aber am 30. Januar 2020 sagte mir der Kardiologe in Hofheim, dass ihr Herz nun größer sei als das eines Irish Wolfshounds, und sie maximal noch ein Jahr hätte. Ich war wie betäubt. Fitz und Alanna waren meine schwer kranken Pflegefälle, aber doch nicht Kaylin! Wie immer hatte sie kein großes Aufhebens um sich gemacht. Kaylin war die verlässliche, die dramen-freie, die ihre Wünsche hintenanstellte. Im Juli war sie noch so fit gewesen, mit Teresa zusammen hatten wir den Pen-Y-Fan bestiegen, einen der höchsten Berge in Wales.
Am Tag nach der Diagnose, heute vor einem Jahr, hustete und atmete sie plötzlich schwer. Ich nahm sie auf meinen Schoss, ihr Kopf lag auf meinem Brustkorb, und es war kein Wille mehr in ihr. Fünf kostbare Minuten hielten wir so inne, dann wollte ich doch nichts unversucht lassen, setzte mich mit ihr ins Auto und fuhr los. Noch vor dem Autobahnzubringer starb sie, einfach so. Meine Hand lag auf ihrem Brustkorb, und auf einmal war sie nicht mehr da.
Ich versuche, dankbar zu sein. Dass wir uns gefunden haben, dass wir ein tolles gemeinsames Leben hatten, zwölf Jahre.
Mein kleines Mädchen. Mein kleiner Fuchs. Ich vermisse sie so sehr. Ohne sie ist es still…