Es war Schicksal. Mit meinen Studenten der Hundetrainerausbildung besuchte ich im Januar 2019 die alternative Tierherberge „Fellosophie“ in Worms von ProAnimale, einem Verein, dem ich seit langem zugetan bin. Wir hatten einen riesigen Schwung Glückskartons dabei, und in der Menge der 40 Hunde fiel mir eine kleine Dame besonders auf: sie war schon älter, 15 Jahre, schwarz und hatte einen peppigen Hüftschwung. Ihren Karton untersuchte sie so hingebungsvoll, dass ich sehr schmunzeln musste. Als es daran ging, die Hundegruppe zurück ins Haus zu bringen, liess sie sich geschickt zurück fallen, und so nahm ich sie behutsam hoch, aber sie war nicht begeistert, und fauchte mich an. Was für ein Esprit in dieser kleinen Person!
Später fragte ich den Stationsleiter: „Peter, wie heißt die kleine schwarze Hündin?“ „Sonja“, antwortete er. Ich: „Nein, ich fragte, wie die Hündin heißt?“ Er: „Sie heißt Sonja.“
Um mich herum meine Studenten im Chor : „Die musst du nehmen!“, „BitteBitteBitte!“. Und: „Das ist Schicksal!“
Erst eine Woche zuvor hatte mich eine Kundin gefragt, ob ich nun, ein halbes Jahr nach Sophie, wieder einen vierten Hund aufnehmen würde. „Nein“, war meine Antwort, Alanna zuliebe, die mit 18 Jahren viel Ruhe und Schutz brauchte.
Trotzdem: die kleine kesse schwarze Dame ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Der Gedanke, dass ein alter Hund im Tierschutz sterben muss, ohne jemals eine eigene Familie gehabt zu haben, ohne nur für sich selbst geliebt worden zu sein, ist mir unerträglich. Alte Hunde haben außerdem spezielle Bedürfnisse, die selbst in einem so schönen Tierheim wie der „Fellosophie“ schwierig zu berücksichtigen sind. Ich hingegen hatte ja schon ein kleines Altersheim. So rief ich den Stationsleiter Peter Janovich wenig später an. Ich weiß gar nicht mehr was ich zu ihm sagte, aber die Woche darauf, am 27. Januar 2019, stand er mit ihr vor der Türe, sie hatte ein kurzes, positives Vorstellungsgespräch bei Alanna, und ich unterzeichnete den Adoptionsvertrag.
Natürlich brauchte sie einen neuen Namen, wie alle meine Hunde, zum Beginn ihres neuen Lebens. Sie stammte aus Polen, und wurde dort als Kettenhund unter schlimmen Umständen gehalten. ProAnimale fand sie, und nahm sie in das Refugien-Programm auf. Es macht langfristig leider keinen Sinn, Kettenhunde frei zu kaufen. Am nächsten Tag hängt ein neuer Hund, ein Welpe, an der gleichen Kette.
Darum vereinbaren ProAnimale und die Besitzer des Kettenhundes (seit 1996!) einen Vertrag. ProAnimale baut auf eigene Kosten auf dem Grundstück des Besitzers einen sicheren Auslauf, mit isolierter Schutzhütte und Liegefläche. Einmal pro Woche kommt ein Kontrolleur und schaut nach den Schützlingen. Es gibt außerdem einen Tierarzt, der mit seiner mobilen Tierklinik die Refugien abfährt. Wenn die Hunde alt oder schwer krank sind, werden sie von ProAnimale übernommen.
Genau so war Sonjas Geschichte. Sie kam nach den Jahren im Refugium zuerst in eine der polnischen ProAnimale Stationen, Fallada, und von dort im September 2018 nach Worms.
Schnappi nannte ich sie, dazu später mehr, und nach ein paar Wochen fand ich den richtigen Namen: Teresa. Ein guter, ernsthafter, katholischer Name. Immerhin war sie ja Polin.
Teresa in unser Leben aufzunehmen war so einfach wie Atmen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie alle Abläufe verstanden, und ich war ganz hingerissen von ihr. Sie verstand sich prima mit Alanna, Fitz und besonders Kaylin, und es war, als wäre sie schon immer da gewesen. Irgendwie begriff sie, dass Alanna die weisse Autorität im Hause war, und verhielt sich ihr gegenüber höchst respektvoll – nicht selbstverständlich wenn man eine ältere Hündin zu anderen älteren Mädels dazu nimmt.
Als ich zum ersten Mal ihr kleines feistes Bäuchlein streicheln durfte, war das wunderschön. Sie kuschelte sich im Bett an mich, und ihre schwarz-braune Knopfaugen hatten mich fest im Blick.
Teresa hatte optisch sehr viel Ähnlichkeit mit meiner im Herbst zuvor verstorbenen Sophie, sie war nur kleiner und schwarz. Und sie war genau so alt wie Sophie, als diese über die Regenbogenbrücke ging. Aber das wurde mir erst später klar.
All das, was ich gerne Sophie ermöglicht hätte, jedoch nicht möglich war, schenke ich nun Teresa: ich zeigte ihr die Welt. Und Teresa, diese kleine Kettenhündin aus Polen, wollte sie sehen. In den zwei letzten intensiven Jahren vereiste ich mit meinen Hunden sehr viel, wohl wissend, dass wir nicht mehr viel Zeit miteinander hatten. Sie waren alle alt.
In unserem ersten gemeinsamen großen Urlaub ging es nach Wales, und die Schafe auf den Wanderwegen merkten schnell, dass Fitz fast erblindet war und somit einfach zu ängstigen, vor allem die Mutterschafe. Aber sie hatten ihre Rechnung ohne Teresa Schnappi gemacht! Sie rannte wie ein schwarzer Blitz auf sie zu, und ihre Rute wehte wie die Fahnen beim Einzug der olympischen Delegationen. Gehörig beeindruckt rannten die Schafe davon, Schnappi kam Freude strahlend zurück und der Weg war für uns frei.
Große Kühe bellte sie so an, wie Else Kling aus dem Fenster schimpfte. Und bei unserer letzten Reise in Großbritannien scheuchte sie in den Parks der Herrenhäuser ein große Gruppe Hirsche auf, mit 17 Jahren. (Hirsche, Kühe und Schafe waren zu keiner Zeit in Gefahr und wurden vermutlich nicht traumatisiert.)
Teresa sprang durch den Schnee im Vorarlberg, sie wanderte vorbei an einsam gelegenen Wasserfällen in Wales, sie kam mit zur Hundetrainer-Konferenz in Rom, und reiste nebenbei durch die Toskana und Tirol. Wir spazierten über die schönsten Strände von Seeland bis Texel in den Niederlanden, und fuhren mit Alanna und Fitz ein letztes Mal ans Meer in Frankreich. Wir flogen nach Griechenland, schafften es hinauf zur Akropolis in Athen. Dann wurde Teresa krank, unheilbar krank, und in ihrer letzten guten Phase fuhr ich mit ihr nach Schottland.
Teresas erster Freund war ausgerechnet Enzo, ein stattlicher Dobermann, intakt und sehr sehr männlich. Schnappi fand ihn genau richtig, und hüpfte um ihn rum wie Yoda mit seinem Lichtschwert. Sie hatte ihn im Griff! Wenn er mit seinen riesigen Pranken zu grob wurde, fauchte sie ihn an, und er war wieder ganz zahm. Sie liebte es, neue Hunde zu treffen und ihnen die Welt zu erklären, wie gut, dass sie in einer Hundeschule gelandet war. Wenn sie auf dem Hof ihre Patrouille mit hoch erhobener Rute tippelte, standen selbst die Junghunde stramm. Das fand sie großartig!
Sie begleitete mich zu vielen Trainings und Workshops, und war bald eine wunderbare Co-Trainerin. Überall hin konnte ich sie mitnehmen, in jedes Restaurant, zu Freunden, sie liebte Autofahren, und schaute wie Kaylin dabei gerne über meine Schulter, bis ihr die Augen zufielen.
Teresa zu streicheln war ein Privileg, welches sie nicht vielen gewährte. Ungebeten angefasst schnappte sie herum, nie hinterließ sie eine Verletzung, nur Ehrfurcht. Sie war mit 8kg eine große Persönlichkeit, und wickelte viele Besucher um ihre kleine Pfötchen. Ich staunte oft, wie stark und neugierig Teresa trotz ihrer schlimmen Vergangenheit war.
Körperlich hatte Teresa die vielen Jahre der Vernachlässigung nicht so gut überstanden. Ihr Maul war eine Ruine. Als sie mich das erste Mal anhechelte, war es der Atem der Verwesung. Die Zähne waren verfault, bis in den Kiefer hinein, bis zur Nase: wenn sie fraß, nieste sie das Essen wieder aus. Sie musste solche Schmerzen haben. Kein Wunder, dass sie schnappte. Selbst der Zahntierarzt war sichtlich betroffen: Es hatten sich Fisteln (Vereiterungen an der Zahnwurzel) gebildet, die sich aber nicht so leicht behandeln ließen, einfach, weil kein gesundes Gewebe, kein gesunder Knochen mehr da war. Nach mehreren großen OPs blieben Löcher im Oberkiefer zurück, die sich nicht schließen ließen, und ein kaputter Eckzahn, den zu entnehmen mangels Gewebe nicht möglich war. Sie würde für immer Entzündungshemmer und Schmerzmittel nehmen müssen. Ihr Maul blieb eine Baustelle.
Teresa überstand diese schmerzhaften Termine mehr oder weniger gut. Sie war ja keine junge Maus mehr. Sie litt, rappelte sich aber wieder auf. Sie war so tapfer!
Dann starben Kaylin und Fitzwilliam und Alanna, unsere ganze Hunde-Familie, innerhalb von sechs Wochen, alters- und krankheitsbedingt, im Frühjahr 2020. Nun waren es bloß noch sie und ich. Sie fraß nun schlecht, wir waren beide sehr traurig, und ich nahm wieder Hunde für den Tierschutz auf, Lola (Peppi) und Amelie und später Ozeana (Katana) und Kimi. Alle vier vermittelte ich in liebevolle Zuhause, an wunderbare Menschen. Aber das sind andere Geschichten.
Teresa ging es körperlich gut in diesem Corona-Frühling. Wir unternahmen lange, schöne Spaziergänge, was vorher durch meine kleines Hospiz daheim nicht mehr möglich gewesen war. Sie begleitete mich viel und war nun sehr fitte 16 Jahre alt.
Im Urlaub in Griechenland hatte Teresa ihren ersten epileptischen Anfall, aus dem Nichts. Wir flogen überstürzt nach Hause und nach langem Hin und Her die Diagnose: Toxoplamose, Hirnhautentzündung. Fast starb sie am Nierenversagen, ich infundierte sie zwei Wochen lang im Auto und daheim. Es folgten über die Monate viele weitere kleine und große Anfälle, Valium lag nun überall griffbereit, es gab gute Wochen, in denen ich dachte, wir hätten es im Griff, und dann Anfall-Serien, meistens nachts.
Meine kleine Spitz-Maus war plötzlich schwach, lange Spaziergänge nur noch Erinnerung, ich war froh, wenn sie mit Interesse über den Hof lief. Nur unsere Katzen konnten noch ein kurzes Aufbäumen jenes Esprits hervorlocken, mit welchem sie ein Jahr zuvor ganze Schafherden aufgescheucht hatte.
In den Tierkliniken gingen wir ein und aus, Blutkontrollen, Blutdoping, neue Medikamente, die Abstände der Anfälle wurden immer kürzer. Kaum hatte sie eine schlimme Phase überstanden, war medikamentös neu eingestellt, wir hatten ein, maximal zwei schöne Monate, dann krampfte sie wieder, schäumte aus dem Maul, verlor Urin, war danach völlig erschöpft. Eine neue Anfall-Serie begann, die immer stärkere Medikamente erforderte. Ich traute mich kaum noch, sie allein zu lassen, hatte ein riesiges Arsenal von Spritzen in Schublade und Jackentasche. Die schwachen Nieren verursachten Appetitlosigkeit, was sie heute aß schaute sie morgen nicht mehr an.
In einer letzten guten Phase fuhren wir nach Schottland, ich ahnte, es würde unsere letzte Reise sein. Ich bin sehr froh, dass wir trotz aller Ängste und Bedenken aufgebrochen sind. Wir hatten ganz viel Zeit miteinander, sie schnupperte neue Gerüche, lief sogar einen ganzen Berg hinunter (ich hatte sie hochgetragen). Nur anderthalb Jahr zuvor hatte sie mit Kaylin den Pen-Y-Fan bestiegen, den höchsten Berg in Süd-Wales.
Sie fuhr im Hogwarts-Express, knabberte Welpen-Sticks vor dem Buckingham Palace, kletterte über Fischernetze in Mallaig. Ein letztes Mal scheuchte sie Hirsche in Knole Park auf und kam strahlend zu mir zurück. Aber am liebsten lag sie auf oder unter vielen Decken im Auto und schlief, an mich gekuschelt. Sie krampfte in diesen Wochen kein einziges Mal.
Kurz nach unserer Rückkehr fiel sie die Treppe runter. Kreuzbandriss. Es ging ihr schlecht, die Anfälle kamen wieder, die Medikamente schlugen nicht mehr an. Sie kämpfte, im Kopf war sie glasklar. Aber es war einfach zu viel. Vier Mal stand es in diesen neun Monaten zehrender Krankheit auf der Kippe, einmal warteten wir schon vor der Tierarztpraxis auf die Einschläferung, aber Teresa Schnappi war eine Kämpferin. Sie hatte einen Willen. Sie humpelte in den Hühnerstall und trug ein riesiges Hühnerei hinaus. Sie legte sich in der Wintersonne auf die Terrasse und schaute in die Ferne. Sie legte ihren Kopf an meinen Hals, ihr erschöpfter Körper auf meinen Brustkorb gebettet.
Am 10. März 2021, genau ein Jahr nach Alanna, schlief sie so in meinen Armen ein und wachte nicht mehr auf. Nur zwei intensive Jahre hatten wir zusammen.
All die verlorenen Jahre. Ich wünschte, wir hätten uns früher getroffen. Ich wünschte, ich hätte dein Leiden verhindern können. Du warst so tapfer. Ich wünsche, du hättest viele glücklichen Jahre gehabt. Ein ganzes glückliches Hundeleben.
Meine kleine Teresa Schnappi, meine kleine kluge Spitz-Maus. Ich bin unendlich dankbar, dass wir uns gefunden haben. Dass ich mich um dich kümmern durfte. Kein federleichtes Tippeln mehr in diesem Haus, dein Platz an meiner Schulter im Auto ist leer. Du fehlst mir so.