Zwölf Jahre durften wir zusammen sein. Das ist eine lange Zeit. Und doch nicht genug. Wenn ich diese zwölf Jahre zurück denke, ist das vorherrschende Gefühl Bedauern. Weil ich ihr nie das Leben geben konnte, dass sie sich gewählt hätte.
Das war meine kleine, dicke Sophie: Sie kam Anfang 2006 über das Tierheim Heilbronn zu mir. Pfleger Vladimir sprach mich bei meinem wöchentlichen Besuch an: „Sonja, haben schrecklichen Hund hier. Kannst du mitnehmen.“ Damals, als meine eigenen Hunde noch sehr fit waren, hatte ich fast nahtlos Pflegehunde für das ein oder andere Tierheim. Ich übte mit ihnen daheim für das neue Leben und bereitete sie auf eine erfolgreiche Adoption vor. Lea war gerade frisch vermittelt, der Platz frei, und so nahm ich Sophie mit, die wenige Tage davor aus Rumänien aus dem größten Tierheim der Welt, der Smeura – damals 3000 Hunde, heute über 5000 Hunde – gekommen war.
Sophie war so anders als all die anderen Hunde, die ich jemals betreuen durfte. Das gilt bis heute. Weil sie gar kein „richtiger“ Hund war, aber das fand ich erst viel später raus.
Sophies spezielle Geschichte könnt ihr hier lesen: http://www.dogcom.de/15.html
Ich war damals grün wie Gras als Trainer, und Sophie zeigte mir immer wieder auf, was ich noch zu Lernen hatte. Eine Gewohnheit, die sie bis zum Schluss beibehielt.
Sophie mochte es nicht, angefasst zu werden. Sie wollte nicht Spazieren geführt werden. Ich war in all den Jahren keine einzige Runde mit ihr an der Leine spazieren, obwohl ich es wahrlich versucht habe. Der letzte Versuch, noch im Gundelsheimer Haus, endete in einer solchen Panik, als sich die schmale Leine aus mit Plastik umhüllten Metall, haken- und ringfrei, im Rosenbusch im Garten minimal verhing, dass Sophie wochenlang verstört und misstrauisch war, und ich das Vorhaben abhakte. Ab dann ging es aufwärts mit unserer Beziehung.
Bei Sophie war ein „Ja“ ein „Ja“, und ein „Nein“ ein “Nein“. Sie hatte einen sehr starken Willen. Von ihr lernte ich, wie wichtig Tieren die Selbstbestimmung ist. Dass es ein Grundbedürfnis ist, die Wahl zu haben, und selbst Entscheidungen treffen zu dürfen.
Oft sann ich darüber nach, welches Leben sich Sophie wohl rausgesucht hätte. Die Antwort war immer deprimierend, denn dieses konnte ich ihr nicht bieten. Und leider auch niemand sonst, zumindest nicht nachhaltig. Zurück nach Rumänien in die Freiheit? Dafür war sie schon zu lange bei mir, und Rumänien war und ist kein sicheres Land für wild lebende Hunde. In eine spezielle Auffangstation für scheue Tiere? Gab es damals nicht, und wenn doch, dann nicht mit der notwendigen Versorgungslage.
Auch wegen Sophie zogen wir schließlich in die alte Gärtnerei von Bad Wimpfen, und ich erntete manch schiefen Blick, als ich beschloss, einen wahrhaft großzügigen Teil des Grundstücks als privaten Garten zu nutzen, mit Sophie-sicherem Zaun.
Bewegungsmangel und Übergewicht waren nämlich ein ständiger Konflikt zwischen uns. Sophie fand Sport doof. Und sie hatte eine besondere Schwäche für Butterkekse. Die originalen von Leibnitz, nicht die günstigeren vom Lidl. Die schlang sie ebenfalls runter, auch die mit Vollkorn, aber nur bei den „Echten“ gingen die Sabberfäden bis aufs Bettlaken. Weil Sophie ständig mit ihrem Gewicht kämpfte (nun ja, den Kampf führte vielmehr ich mit ihr), gab es Butterkekse ziemlich selten.
Als sie zum ersten Mal im Frühjahr einen Fahrradfahren entlang am Zaum „jagte“, jubelte ich. Sie rannte! Sie tat es genau einmal. Dann entschied sie: zu anstrengend. Viel lieber buddelte sie in den Blumenbeeten die neuen Pflanzen aus.
Sophie liebte den neuen Garten, in welchem ich sie stundenlang lassen konnte, ohne ängstliches Herzklopfen, ob sie doch irgendwie abhauen könnte, ob doch irgendjemand die Pforte öffnen könnte. Sie lag unter dem frisch gepflanzten Kastanienbaum, der gerade so für sie genug Schatten bot, und war ganz zufrieden mit der Welt.
Ihr Abwechslung zu bieten, war schwierig. Variierenden Hundekontakt hatte sie durch die Hundeschule, die Pflegehunde und die Gasthunde. Sophie kam mit absolut jedem Hund klar. Ihre Körpersprache und ihr Sozialverhalten waren so gut entwickelt, wie ich es noch nie und nie mehr gesehen habe. Nur beim Thema Futter verschwand die weiße Flagge, die stets über ihrem Kopf gehisst war.
Ihre beste Freundin war viele Jahre Alanna, mit welcher sie auch richtig ausgelassen spielen konnte. Als beide dann im Seniorenalter waren, gerieten sie zweimal wegen Futter aneinander, so schlimm, dass ich es trennen musste. Fortan liefen sie naserümpfend an einander vorbei. Ein bisschen wie im Altersheim.
Menschen empfand Sophie als gefährlich, und wenn ich zurück blicke auf die Tage, an denen ich ihr nur mit Sedierung oder Maulkorb die Krallen schneiden konnte, gleicht es einem Wunder, wie sie sich entwickelte. Sophie, die es in den ersten Jahren schüttelte –ja, schüttelte! – vor Angst, wenn fremde Menschen im Haus waren (ein Handwerker reichte schon), die so stark hechelte, dass ihre Augen rot waren mit geplatzten Blutgefäßen, diese Sophie trippelte schließlich zu fremden Menschen hin, um sich ein Leckerchen abzuholen. Sie war so mutig! „Es ist ein Glückstag, wenn sie zu dir kommt“, sagte ich zu den Kunden, die versuchten, möglichst still zu stehen, damit sie nicht davon huschte.
Oft war sie sogar im Büro, wo Mitarbeiter und Kunden ein und aus gingen. Sie lag auf dem Kissen mit Leopardenmuster, streckte den Bauch höchst unvorteilhaft heraus, und schnarchte.
Tierarztbesuche waren lange undenkbar, aber auch das schafften wir schließlich, natürlich mit Transportbox. Glücklicherweise war Sophie nie krank, wirklich nie. Sie hatte genau nichts. Bis sie schließlich 2016, als sie zehn Jahre bei mir war, doch erkrankte. Schwer erkrankte. Sie nieste Blut und hatte plötzlich zahlreiche Ekzeme. Das bekamen wir mit Mühe in den Griff. Aber von da an ging es bergab. Der Tierarzt nannte es einen „körperlichen Totalschaden“, die Gelenke hinüber, die Blutwerte schlecht.
Mit Medikamenten versuchten wir, die Lebensqualität hoch zu halten. Nun war sie nach der täglichen Fleischwurst-in-Streifen-Suche im Garten erschöpft. Im Sommer 2018 war mir klar, dass es für Sophie keinen Sommer 2019 geben würde. Längst spritzte ich sie selbst mit Aufbaupräparaten, und im September konnte sie dann nicht mehr aufstehen. Die Hinterbeine brachen weg, sie kam einfach nicht mehr hoch. Ihr Blick war so hilflos. Ich half ihr zu Stehen, und als sie schließlich zur Terrasse „ging“, war jeder Schritt eine Qual.
Wenn ich sie beim Aufstehen und Laufen unterstützte, mochte sie das nicht. Sie hatte dann Angst und noch mehr Schmerzen. Sie hasste es, so hilflos zu sein. Im Kopf war sie glasklar.
Als der Tierarzt zum letzten Mal zu uns nach Hause kam, kämpfte sie sich gerade aus dem Garten zurück ins Haus. Dieser Wille! Sie wollte nicht sterben. Aber ihr Körper war am Ende. In meinen Armen schlief sie für immer ein.
Ich wünschte, ich hätte ihr öfters Butterkekse gekauft. Ich wünschte, ich wäre öfters mit ihr im Glashaus gewesen, hätte ihr jeden Tag ein Intelligenzspielzeug gerichtet. Ich wünschte, sie wäre noch hier.
Jetzt, wo ich diese vielen Zeilen geschrieben habe, empfinde ich noch immer Bedauern. Aber auch Dankbarkeit. Dass ich sie haben durfte, so lange, und dass wir gemeinsam diese besondere Reise gegangen sind. Dass sie nie davon gelaufen ist, obgleich sie in den letzten Jahren Gelegenheit gehabt hätte. Dass sie viele Jahre unverwüstlich gesund war, bis ins hohe Alter. Ich war ihre Familie. Und sie meine.
Danke für all die Karten, die lieben Worte, die Umarmungen.